Die gravierenden ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie haben den haushaltspolitischen Konsolidierungserfolgen der zurückliegenden Jahre ein gleichermaßen abruptes wie auch einschneidendes Ende bereitet. An die Stelle der „schwarzen Null“ ist im Jahr 2020 ein Rekorddefizit getreten. Für 2021 sehen die fiskalischen Perspektiven nicht besser aus und auch in den Jahren danach drohen weitere Haushaltsdefizite – wenn auch auf niedrigerem Niveau. Zwar sind die beschlossenen Hilfs-, Rettungs- und Konjunkturprogramme sowie die mit ihnen einhergehenden Haushaltsdefizite angesichts des konjunkturellen Schocks durch die Pandemie nachvollziehbar und im Grundsatz als temporäre Unterstützung ökonomisch auch gut begründet. Gleichwohl stellt sich in einer solch zugespitzten Situation die Frage nach der langfristigen Finanzierbarkeit der Staatsausgaben besonders eindringlich, zumal weder die fiskalpolitischen Erfahrungen in Deutschland und Europa seit dem zweiten Weltkrieg noch der demografische Wandel in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Anlass geben, im Hinblick auf die Schuldensituation der öffentlichen Hand übermäßig optimistisch in die Zukunft zu blicken. Vor allem die voranschreitende Bevölkerungsalterung lässt einen deutlichen Anstieg der altersabhängigen staatlichen Ausgaben erwarten, während gleichzeitig ein schrumpfendes Erwerbspersonenpotential die Finanzierungsspielräume der staatlichen Umlagesysteme, insbesondere also der Sozialversicherungen, zunehmend zu limitieren droht.
Doch was bedeutet diese Gemengelage für die zukünftige Entwicklung der öffentlichen Haushalte und der Staatsschulden? Wie nachhaltig sind die Regelungen des Status quo, auch wenn die derzeitige Pandemie hoffentlich bald überwunden sein wird? Und was wären notwendige Weichenstellungen und Reformmaßnahmen, um die Staatsfinanzen mittel- und langfristig wieder auf solide Füße zu stellen und eine übermäßige fiskalische Belastung junger und zukünftiger Generationen zu vermeiden?
Diese und weitere Fragen thematisierte die Stiftung Marktwirtschaft am 19. November 2020 im Rahmen eines Webinars mit Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Vorstandsmitglied der Stiftung Marktwirtschaft und zugleich Leiter des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. In seiner Präsentation erläuterte Raffelhüschen zunächst den Grundgedanken und die Methodik der Generationenbilanzierung. Bei diesem rechentechnisch aufwendigen Instrument zur Projektion und Analyse der zukünftigen fiskalischen Entwicklung handele es sich de facto um eine dynamisierte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Als zentraler Indikator zur Beurteilung der Staatsfinanzen fungiere die sogenannte Nachhaltigkeitslücke, die neben den heute bereits sichtbaren expliziten Schulden aus der Vergangenheit auch die sogenannten impliziten – d.h. die bei Fortführung des Status quo erst in Zukunft entstehenden – Schulden berücksichtige. Somit bilde die Nachhaltigkeitslücke die tatsächliche staatliche Gesamtverschuldung unter Berücksichtigung der projizierten zukünftigen Haushaltsüberschüsse und -defizite ab. Von einer fiskalisch nachhaltigen Situation, in der die Nachhaltigkeitslücke den Wert Null aufweise, sei der deutsche Staat weit entfernt, erläuterte Raffelhüschen und verwies auf die aktuelle Nachhaltigkeitslücke von mindestens 357 Prozent des BIP. Berücksichtige man zusätzlich noch die Auswirkungen des zweiten Lockdowns seit Herbst 2020, müsse sogar von einer staatlichen Gesamtverschuldung von rund 400 Prozent des BIP ausgegangen werden. Die Corona-Pandemie und der durch sie verursachte Wachstumseinbruch führten zu einbrechenden Staatseinnahmen bei gleichzeitig stark steigenden Ausgaben und verschlechterten dementsprechend die Verschuldungssituation erheblich. Vor allem die implizite Verschuldung sei dadurch um mehr als ein Bruttoinlandsprodukt gestiegen. Raffelhüschen warnte, dass die – heute noch – impliziten Schulden im Zeitablauf sukzessive zu expliziten Schulden würden, wenn man so weitermache wie bisher, und verwies auf die dann zu erwartenden Verwerfungen in der Geldpolitik und auf den Finanzmärkten.
Allerdings seien die fiskalischen Perspektiven bereits vor der Corona-Pandemie keineswegs rosig gewesen, erinnerte Raffelhüschen. Vor allem für die umlagefinanzierten Sozialversicherungen stelle der demographische Wandel eine kaum zu lösende Herausforderung dar. Bei Fortführung des Status quo sei inzwischen langfristig mit einem Gesamtbeitragssatz von bis zu 60 Prozent zu rechnen. Daher sei das aktuelle politische Ziel, die Sozialversicherungsbeiträge nicht über die 40-Prozent-Grenze steigen zu lassen, ohne grundlegende Reformen bereits mittelfristig nicht haltbar. Raffelhüschen ergänzte, dass das Aufbrauchen der bestehenden Rücklagen sowie höhere – steuerfinanzierte – Bundeszuschüsse keine dauerhaft wirksamen Lösungen darstellten, um jüngere Generationen zu entlasten. Vielmehr müsse der Staat Wachstumsimpulse setzen und vor allem stärker als bisher die Staatsausgaben begrenzen. Die Politik dürfe nicht damit fortfahren, die umlagefinanzierten Sozialversicherungen weiter auszubauen oder ökonomisch unsinnige Wahlgeschenke vor allem zu Gunsten der Älteren zu verteilen. Den von Bundesgesundheitsminister Spahn vorgeschlagenen Ausbau der Sozialen Pflegeversicherung in Richtung einer Vollversicherung hielt er vor diesem Hintergrund für einen unverantwortlichen Irrweg. Angesichts des bereits erreichten Rekordniveaus bei den Steuereinnahmen sah Raffelhüschen zudem kaum Handlungsspielraum für weitere Steuererhöhungen. Um die bestehenden Sozialversicherungssysteme trotz der voranschreitenden Bevölkerung finanzierbar zu halten, plädierte der Ökonom unter anderem für eine Stärkung kapitalgedeckter Ergänzungssysteme.