Die Stiftung Marktwirtschaft plädiert angesichts der voranschreitenden Bevölkerungsalterung für ein grundlegendes Umsteuern in der Rentenpolitik. Dazu gehört insbesondere die langfristige Anpassung des Renteneintrittsalters an die Entwicklung der Lebenserwartung, beispielsweise mittels eines Lebenserwartungsfaktors. Die bisherigen Maßnahmen der Großen Koalition – etwa die Rente mit 63 oder der geplante Grundrentenkompromiss – schwächen demgegenüber die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung in der mittleren und langen Frist und wecken bei den Bürgern Erwartungen, die nicht dauerhaft erfüllt werden können.
„Die Rentenpolitik der Großen Koalition seit 2013 hat das Problem der voranschreitenden Bevölkerungsalterung komplett ignoriert“. Zu diesem Ergebnis kommt Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Vorstandsmitglied der Stiftung Marktwirtschaft und Leiter des Forschungszentrums Generationenverträge an der Universität Freiburg (FZG), angesichts neuer Berechnungen zur Lage der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) auf Basis der Generationenbilanz. Bei Fortführung des Status quo werden in der GRV zukünftige Defizite in Höhe von insgesamt rund 78 % des BIP auflaufen. Damit entfallen auf die gesetzliche Rentenversicherung rund die Hälfte der impliziten, heute also noch nicht direkt sichtbaren Schulden des Staates (165 % des BIP) bzw. rund ein Drittel der gesamten staatlichen Nachhaltigkeitslücke (226 % des BIP).
„Anstatt diese Probleme mutig anzugehen und die drohenden fiskalischen Belastungen insbesondere für junge und zukünftige Generationen abzumildern, hat die Große Koalition sie mit ihrer Klientelpolitik der Wahlgeschenke für die älteren Wähler verschärft“, kritisiert der Wissenschaftler. Maßnahmen wie die Rente mit 63, aber auch die geplante Umsetzung des Grundrentenkompromisses zwischen CDU/CSU und SPD sind nicht nur kostspielig. Sie sind auch ungeeignet, die von der Politik angeführten „Gerechtigkeitsdefizite“ zielgerichtet zu adressieren. „Die abschlagsfreie Rente mit 63 subventioniert mit Kosten von insgesamt 157 Mrd. Euro den vorzeitigen Renteneintritt meist ohnehin gut versorgter Versicherter und verschärft zusätzlich auch noch den Fachkräftemangel“, warnt Raffelhüschen.
Ebenfalls nicht überzeugen kann aus Sicht der Stiftung Marktwirtschaft der nun gefundene Kompromiss bei der Grundrente. Auch wenn dieser aufgrund der „Bedürftigkeitsprüfung light“ etwas weniger problematisch ist als das ursprüngliche Konzept aus dem Bundesarbeitsministerium, verstößt die Grundrente nach wie vor gegen tragende Grundprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung und der Grundsicherung. Vorstandsmitglied Raffelhüschen verweist diesbezüglich auf den Bruch des Lebensleistungsprinzips der GRV und des Gleichbehandlungsprinzips der Grundsicherung sowie den Verstoß gegen die intergenerationelle Fairness. Darüber hinaus befürchtet er, dass die Grundrente am Ende deutlich teurer wird als die gegenwärtig von der Politik anvisierten jährlichen Anfangskosten von 1,5 Mrd. Euro. „Unsere eigenen Berechnungen liegen gut 50 % über der Kostenschätzung der Großen Koalition, und das noch ohne Berücksichtigung der angedachten Gleitzonen bei den Grundrentenzeiten und beim Einkommensfreibetrag“, erläutert Raffelhüschen. „Am Ende läuft es wohl auf Steuer- oder Beitragssatzerhöhungen für die Allgemeinheit hinaus, zumal die von der Politik ins Spiel gebrachte Finanztransaktionssteuer eher eine – auch noch zu klein dimensionierte – Fata Morgana denn ein überzeugendes Finanzierungskonzept ist“, so Raffelhüschen.
Der Lebenserwartungsfaktor als Element einer zukunftsorientierten Rentenpolitik
Um die gesetzliche Rentenversicherung zukunftsfähig zu machen, muss die Politik sich endlich den fiskalischen Herausforderungen der Bevölkerungsalterung (vgl. Abb. 1) stellen und auch unbequeme Entscheidungen treffen, betont Raffelhüschen. Aus Sicht der Stiftung Marktwirtschaft kommt man dabei um eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters nicht herum – Beitragssatzsteigerungen und eine Absenkung des Rentenniveaus können die Nachhaltigkeitslücke nicht (allein) schließen. Daher plädiert die Stiftung für die Einführung eines Lebenserwartungsfaktors als nachhaltige und flexible Lösung. Mit ihm könnte die Nachhaltigkeitslücke der GRV um 37,9 Prozentpunkte auf 40,2 % des BIP gesenkt, also fast halbiert werden. Vorstandsmitglied Raffelhüschen erläutert: „Der Zugewinn an Lebenserwartung wird so zwischen Arbeitszeit und Rentenbezugszeit aufgeteilt, dass jeder Jahrgang für ein Rentenbezugsjahr die gleiche Zahl an Beitragsjahren geleistet hat und damit das Verhältnis dieser beiden Größen konstant bleibt (vgl. Abb. 2). Dies ist schlicht ein Gebot der intergenerativen Fairness. Wer im Jahr 2050 ein Alter von 65 erreicht, kann mit weiteren 24 Lebensjahren rechnen – das sind 10 Jahre mehr als noch 1960. Es liegt auf der Hand und ist alles andere als ungerecht, dass die Menschen dann auch länger arbeiten müssen“, so Raffelhüschen. Die von ihm vorgestellten Simulationsergebnisse zeigen, dass das Renteneintrittsalter im Jahr 2080 aufgrund des Lebenserwartungsfaktors zwischen 68 und 70 Jahren liegen würde – je nachdem, wie sich die Lebenserwartung in Zukunft entwickelt. Im Jahr 2050 läge das Renteneintrittsalter allerdings erst zwischen 67,8 und 68,3.
Je eher die Politik damit beginnt, diese Wahrheiten offensiv anzusprechen und den entsprechenden Reformbedarf zu kommunizieren, desto größer wird die Akzeptanz in der Bevölkerung werden, unbequeme, letztlich aber unvermeidliche Reformen mitzutragen, zeigt sich Raffelhüschen überzeugt.