9. November 2020

Die aktualisierte Generationenbilanz: Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? Corona, Schulden und soziale (Verun-)Sicherung

Die fiskalischen Perspektiven der öffentlichen Haushalte haben sich aufgrund der Corona-Pandemie weiter verschlechtert. In den letzten vier Monaten hat sich die Nachhaltigkeitslücke von 11,9 Billionen Euro auf 12,3 Billionen Euro vergrößert. Die zweite Infektionswelle dürfte den Erholungsprozess der Wirtschaft verlangsamen und die Nachhaltigkeitslücke bis auf 401,2 Prozent des BIP (13,8 Billionen Euro) treiben. Zugleich wird es bereits kurz- und mittelfristig zunehmend schwieriger, das politische Ziel einzuhalten, den Beitragssatz der Sozialversicherungen nicht über 40 Prozent ansteigen zu lassen. Weitere kostenintensive Reformschritte, wie sie Bundesgesundheitsminister Spahn Anfang Oktober für die Soziale Pflegeversicherung vorgestellt hat, verbieten sich auch vor diesem Hintergrund.

 

Aktualisierte Berechnungen der Stiftung Marktwirtschaft und des Forschungszentrums Generationenverträge der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen, dass sich die langfristigen fiskalischen Perspektiven der öffentlichen Haushalte in den letzten Monaten weiter verschlechtert haben. Zum einen fällt der Rückgang der Steuereinnahmen (gemäß aktualisierter Steuerschätzung) stärker aus, als im Frühjahr erwartet worden war. Aufgrund politischer Entscheidungen in den letzten Wochen ist mit weiteren finanziellen Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu rechnen – etwa aufgrund höherer öffentlicher Investitionen und des zweiten Familienentlastungsgesetzes. Allein aufgrund dieser aktualisierten Datenlage steigt die Nachhaltigkeitslücke aus expliziten und impliziten Staatsschulden von 345 Prozent auf 357 Prozent des BIP bzw. von 11,9 Billionen Euro auf 12,3 Billionen Euro. Zum anderen zeichnet sich immer stärker ab, dass der wirtschaftliche Erholungsprozess in den kommenden Monaten langsamer als ursprünglich erhofft verlaufen wird, nicht zuletzt, da sich viele Länder – wie auch Deutschland – inzwischen mitten in einer zweiten Infektionswelle befinden und das wirtschaftliche Leben erneut zumindest partiell zurückfahren. Werden die zu erwartenden ökonomischen Auswirkungen des zweiten Lockdowns berücksichtigt, liegt die Nachhaltigkeitslücke sogar bei 401,2 Prozent des BIP.

„Die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie vergrößern nicht nur den langfristigen Konsolidierungsbedarf der öffentlichen Haushalte, sondern machen sich schon kurz- und mittelfristig mit großer Wucht bemerkbar“, erläutert Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Vorstandsmitglied der Stiftung Marktwirtschaft, bei der Präsentation der Ergebnisse. Das gilt insbesondere für die Sozialversicherungen, deren beträchtliche Rücklagen von fast 90 Mrd. Euro in diesem und dem nächsten Jahr trotz temporärer zusätzlicher Steuerzuschüsse fast vollständig abgeschmolzen werden müssen, um den Gesamtbeitragssatz nicht über die politisch gesetzte Maximalgrenze von 40 Prozent steigen zu lassen (sog. Sozialgarantie). „Die finanziellen Reserven der Arbeitslosenversicherung werden aufgrund des Einbruchs am Arbeitsmarkt und der explosionsartig angestiegenen Kurzarbeit sogar schon Ende dieses Jahres erschöpft sein“, betont Raffelhüschen. Soll die Sozialgarantie der Großen Koalition auch nach dem Jahr 2021 Bestand haben, bedarf es daher zusätzlicher Steuerzuschüsse an die Sozialversicherungen. „Allerdings wären diese nur ein Feigenblatt, um die eigentlichen strukturellen Probleme der Sozialversicherungen zu überdecken“, mahnt Raffelhüschen und fordert einen Verzicht auf dauerhafte zusätzliche Steuerzuschüsse und stattdessen ein Umsteuern in der Sozialpolitik hin zu mehr Nachhaltigkeit: „Wir dürfen den Menschen nicht immer mehr staatliche Leistungen versprechen, von denen niemand weiß, wie sie in einigen Jahren noch finanziert werden sollen.“

Vor diesem Hintergrund hält die Stiftung Marktwirtschaft die jüngsten Reformvorschläge von Bundesgesundheitsminister Spahn für die Soziale Pflegeversicherung und dabei insbesondere den Übergang zu einer Vollversicherung mit doppelt begrenztem Eigenanteil in der stationären Versorgung für verfehlt. Eine solche Reform würde erstens die Nachhaltigkeitslücke der SPV um rund die Hälfte erhöhen – von 28,8 Prozent auf 43,4 Prozent des BIP. Zweitens setzt sich damit der Trend fort, in den Sozialversicherungen immer mehr zusätzliche fiskalische Lasten auf die junge Generation zu verlagern. Während die mittleren und älteren Generationen vom Reformvorschlag im Durchschnitt finanziell profitierten, würden die jüngeren Generationen finanziell schlechter gestellt. Dabei werden diese in den kommenden Jahrzehnten ohnehin mit stark steigenden Sozialversicherungsbeitragssätzen konfrontiert. Da darüber hinaus bei einer Ausweitung der Versicherungsleistungen im stationären Pflegebereich mit kostentreibenden Fehlanreizen (Moral Hazard) und einem zusätzlichen Heimsog-Effekt zu rechnen ist, könnte die Reform zudem deutlich teurer werden als geplant.

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