In seiner Begrüßung zum Jahrestreffen 2020 der Stiftung Marktwirtschaft dankte Prof. Dr. Theo Siegert, Vorsitzender des Stiftungsrats, den Teilnehmern für Verbundenheit, Unterstützung und Rat, ohne die die Stiftung nicht so "fröhlich penetrant" für Freiheit, Verantwortung und Wettbewerb einstehen könnte. Angesichts dessen, was wir in den letzten Monaten politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich erlebt hätten, könne man durchaus sagen, dass es nur wenige standhafte Verfechter verlässlicher Ordnungspolitik gebe, wie die Stiftung Marktwirtschaft einer sei.
Neben den beiden Ehrengästen der Veranstaltung, dem Gastredner Friedrich Merz und dem diesjährigen Wolfram-Engels-Preisträger, Dr. Carsten Linnemann MdB, begrüßte Siegert besonders herzlich die beiden Abiturienten, Samira Marohn und Elias Meyenberg, die 2020 den von der Stiftung Marktwirtschaft an der Ludwig-Erhard-Schule in Sigmaringen ausgelobten Preis für die beste Abiturleistung im Profilfach Volks- und Betriebswirtschaftslehre bekommen haben.
Den inhaltlichen Teil der Veranstaltung eröffnete Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Vorstandsmitglied der Stiftung Marktwirtschaft, mit einem Bericht über die aktuelle Generationenbilanz im Rahmen des Ehrbaren Staates. Letztlich gehe es dabei um die Frage: Was wäre, wenn der Staat wie ein Unternehmer bilanzieren würde und für das, was er für die Zukunft verspricht, Rückstellungen bilden müsste? Wenn man diese Rechnung aufmache, zeige sich, wie hoch diese Rückstellungen eigentlich sein müssten und zudem, wie sehr sie sich durch Corona noch zusätzlich erhöht hätten. Das Hauptproblem sei allerdings, dass diese Rückstellungen gar nicht existierten, sondern in Form impliziter Schulden eine enorme Hypothek zu Lasten zukünftiger Generationen darstellten. Im Grunde weise der Staat nur ein Fünftel der Schulden aus, die er tatsächlich habe, während vier Fünftel unsichtbar blieben. Laut Raffelhüschen würden sich diese zusätzlichen Lasten durch Corona um weitere 3 Billionen Euro erhöhen. Wie der Gesundheitsminister vor dem Hintergrund dieser Schuldenlast auf die Idee komme, nun aus der Teilkaskoversicherung der Pflegeversicherung eine Vollkaskoversicherung machen zu wollen, sei für ihn nicht nachvollziehbar.
Prof. Dr. Michael Eilfort, Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, betonte, dass die Stiftung bereits seit 2014 vor dem „Flaschenhals ab 2020“ warne und damit vor absehbaren strukturellen und demographischen Problemen, die insbesondere zwischen den Jahren 2020 und 2030 die öffentlichen Haushalte bedrängten. Jetzt hätten wir 2020 und zu der strukturellen Malaise käme nun durch die Rezession, die deutlich größer ausfallen werde als erwartet, noch zusätzlich ein konjunkturelles Problem. Eilfort warnte davor, dass beim Regierungshandeln das Verhältnis zwischen strukturkonservierender Rettung und Investitionen nach vorne mit jedem Tag etwas ungünstiger werde. Umso wichtiger sei es, dass die Stiftung Marktwirtschaft am Ball bleibe und für Freiheit, Verantwortung und den Markt werbe sowie ganz konkret dafür kämpfe, dass wir wieder in die Vorwärtsbewegung hin zu besseren Anreizen, mehr Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit kämen. Genau darauf ziele die Überzeugungsarbeit der Stiftung ab.
Als Sprecher des Kronberger Kreises gab Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld einen Einblick in die Themen, mit denen sich der wissenschaftliche Beirat der Stiftung Marktwirtschaft in letzter Zeit beschäftigt hat. Dazu gehörte insbesondere der sich auf EU-Ebene zunehmend abzeichnende Paradigmenwechsel hin zu der Vorstellung, dass die EU seine Unternehmen vor Wettbewerb schützen und stärker auf Protektionismus sowie staatliche Lenkung setzen sollte. Dem stellte der Kronberger Kreis die Forderung „Kein Rückzug in die Festung Europa“ entgegen und sprach sich im Sommer in einer gleichnamigen Publikation stattdessen für eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU durch mehr Wettbewerb aus. Anlässlich der diesjährigen Strategieprüfung der Europäischen Zentralbank befasse sich der Kronberger Kreis zudem mit der Frage, wie die europäische Geldpolitik der Zukunft aussehen sollte.
Im Rahmen des 30. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung habe sich der Kronberger Kreis kürzlich in der Debatte um die bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland positioniert. In einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und einer ausführlicheren Publikation, hätten die Wissenschaftler darauf aufmerksam gemacht, dass die Forderung nach einer kompletten ökonomischen Angleichung zwischen Ost- und Westdeutschland wenig sinnvoll sei. Kernelement des Föderalismus sei es, Unterschiede nicht nur anzuerkennen, sondern diese zu akzeptieren und produktiv nutzbar zu machen. In Deutschland werde jedoch genau dies insgesamt viel zu wenig getan.
Im Rahmen der Veranstaltung wurde Dr. Carsten Linnemann MdB der nach dem Gründer des Kronberger Kreises benannte und von der informedia-Stiftung gestiftete Wolfram-Engels-Preis durch deren Vorsitzenden, Dr. Rainer Hildmann, verliehen. Der Preisträger überzeugte die Jury durch seine dezidiert ordnungspolitischen Positionierungen, sein Verständnis für die Bedeutung regelbasierter Wirtschaftspolitik, sein Engagement für Wettbewerb, Preisstabilität, solide Finanzpolitik und Generationengerechtigkeit sowie seinen Einsatz gegen Subventionen, fehlgeleitete Arbeitsmarkt-, Sozial- und Industriepolitik. In seiner Dankesrede äußerte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) der CDU/CSU seine Sorge, dass es heute vor allem aus drei Gründen immer schwieriger werde, dem Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft gerecht zu werden. Erstens komme man bei vielen Themen gar nicht mehr bis zur Faktenebene, wie z.B. beim Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) aufgrund des "Chlorhühnchens", aber auch bei der „Rente mit 63“.
Zweitens verhindere zunehmende Selbstzensur klare Meinungsäußerungen aus Angst vor einem "Shitstorm", wie er selbst einen erlebt habe, als er die Debatte um mangelnde Deutschkenntnisse bei vielen Grundschülern angestoßen habe. Drittens sei die vermehrt zu beobachtende mangelnde Regelbindung ein Problem, wie beispielsweise bei den europäischen Fiskalregeln oder bei der Euro-Rettung: "Wenn man sich an die Bedingungen hält, bekommt man Geld und wenn man sich nicht daranhält, bekommt man auch Geld". Für Linnemann sei der Wolfram-Engels-Preis darum ein Ansporn: "Ich nehme ihn stellvertretend für uns alle an, weil wir alle in der Verantwortung stehen wie selten zuvor – in einer Zeit, in der die Werte der Sozialen Marktwirtschaft auch und gerade im Lichte der Corona-Krise nicht mehr den Stellenwert haben, wie sie sie einmal hatten. Umso mehr sollten wir die Zukunft beherzt angehen im Sinne der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und zeitlos gültiger Maximen Ludwig Erhards."
Der Gastredner des Abends, Friedrich Merz, Kandidat für den CDU-Vorsitz und ehemaliger Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fokussierte sich zu Beginn seines Vortrags auf die "Staatsverschuldung". In den letzten Jahrzehnten sei dieses Problem nicht tragkräftig und nachhaltig genug angegangen worden. Vor der Corona-Krise wäre es nur dank guter wirtschaftlicher Entwicklung und Niedrigzinsen gelungen, die Staatsverschuldung in Deutschland halbwegs wieder den Maastricht-Kriterien anzupassen. Dies werde jedoch aufgrund der gegebenen Umstände für längere Zeit nicht mehr der Fall sein. Um sicherzustellen, dass es „nur“ für zwei Jahre nötig sei, die Schuldenbremse des Grundgesetzes zu lösen, bedürfe es einer gewissen Gründungsdynamik mit neuen Unternehmen, Geschäftsmodellen sowie Arbeitsplätzen in der modernen technologischen Industrie. Im Moment fielen wir jedoch im Wettbewerb mit Amerika und Asien zurück, auch durch eine zum Teil falsch verstandene Wettbewerbspolitik. So gebe es in Europa beispielsweise keinen einheitlichen Börsenplatz, der auch für Börsengänge von erfolgsversprechenden Unternehmen wie Curevac attraktiv genug sei. Zudem leide der europäische Währungsraum an dem Fehlen einer "Politischen Union".
Abgesehen davon waren Merz zwei Themen besonders wichtig: Zum einen sei eine ökologische Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft dringend notwendig, ohne die man die Zustimmung zu diesem Wirtschaftssystem in großen Teilen der Bevölkerung nicht aufrechterhalten werden könne. Daher müsse es gelingen, wesentliche Teile der umweltpolitischen Herausforderungen so in das System einzubauen, dass durch Internalisierung der Kosten diese Aufgabe auch in Zukunft marktwirtschaftlich gelöst werden kann, wie es beispielweise schon im Rahmen des europäischen Emissionshandels der Fall sei.
Zum anderen zeigte sich Merz überzeugt, dass das Thema "Steuerpolitik" auf die Agenda der Bundestagswahl 2021 müsse. Zwar entscheide Steuerpolitik alleine keine Wahl, aber man könne damit Wahlen verlieren, wenn man an der falschen Stelle die falschen Antworten gebe. In der Steuerpolitik habe sich die Stiftung Marktwirtschaft mit ihrem zukunftsfähigen Reformkonzept, das von der Kommission "Steuergesetzbuch" entwickelt wurde, große Verdienste erworben. Es biete eine sehr gute und mit dem internationalen Steuerrecht kompatible Antwort auf die gegenwärtigen steuerpolitischen Verwerfungen. Er kenne kein zweites Steuerreformkonzept in Deutschland, das dem Gesetzgeber der nächsten Wahlperiode für die Unternehmenssteuer ein Angebot mache, das so umfassend, aussagekräftig und detailliert sei – bis hin in die abgefasste Gesetzessprache. Zudem gewinne es nach seiner Einschätzung an Attraktivität, da den Kommunen in der Krise zunehmend die dauerhaften Nachteile des volatilen Systems der Gewerbesteuer bewusst würden.
Am Ende der vom Vorsitzenden des Kuratoriums der Stiftung Marktwirtschaft, Franz-Peter Falke, geleiteten Diskussion gab Merz zu bedenken: "Für Marktwirtschaftler ist es heute viel schwieriger, Politik zu machen, als für Ludwig Erhard in seiner Zeit. Wirtschaftspolitiker müssen heute der Bevölkerung manche Veränderung zumuten, um sicherzustellen, dass es auf Dauer in Deutschland gut bleibt – von besser will ich gar nicht sprechen. Wir müssen im Grunde in den nächsten Jahren versuchen, politisch zu begründen, dass viel neu gestaltet werden muss, damit viel so bleibt, wie es heute ist."
Fotos: Ronny Barthel